Martin von Broock, Andreas Suchanek
In der Krise mehren sich die Forderungen nach einer Refokussierung des Kapitalismus. Notwendig sind nicht nur veränderte Unternehmensstrategien und Marktordnungen, sondern neue Perspektiven im (Selbst-)Verständnis der Wirtschaft. Wir bieten fünf konkrete Ansatzpunkte.
Während an vielen Orten der Welt weiterhin die Krisenbekämpfung im Fokus steht, werfen andere bereits die Frage auf: Was kommt danach? Wie sollen wir das „new normal“ gestalten? Bei vielen möglichen Richtungen besteht offenbar Einigkeit, welcher Pfad nicht beschritten werden sollte: die Rückkehr zum „business as usual“. Stattdessen lautet die Devise: „build back better“. Die Maxime geht zurück auf das 2015 von den Vereinten Nationen beschlossene Konzept zur globalen Katastrophenvorsorge. Die Idee dahinter: Wie können wir Krisen nutzen, um unsere Gesellschaften resilienter zu gestalten?
Nach Ansicht des Weltwirtschaftsforums erfordert „build back better“ nichts weniger als die „Neuerfindung des Kapitalismus“: Gefordert wird ein Umdenken bei Geschäftsmodellen und Unternehmensstrategien; etwa eine bessere Balance von Effizienz und Resilienz, nachhaltigere Innovationen oder eine Neuorientierung von „just in time“ hin zu „just in case“. Dies setze veränderte Marktordnungen voraus, mit höheren Anreizen für dekarbonisierte Produkte und Services, Investmentstrategien entlang solider ESG-Kriterien sowie eine bessere Internalisierung externer Kosten auf Seiten der Unternehmen.
Doch John Ruggie, ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für Wirtschaft und Menschenrechte, betont, dass der Wandel tiefer ansetzen muss: „Building back better is not a slogan for a technical fix. It's a call for a fundamental rethink of how things are done, which puts people at the center not merely a factor of production."
Was aber muss sich im (Selbst-)Verständnis der Wirtschaft ändern, wenn wir die Idee vom Menschen im Mittelpunkt ernst nehmen wollen, ohne dass es bei abstrakten Postulaten bleibt? Dafür braucht es greifbarere Orientierungen, „how things [should be] done“. Für eine von der Wirtschaft mitgestaltete bessere Refokussierung des Kapitalismus sehen wir fünf zentrale Prämissen mit konkreten Ansatzpunkten für notwendige Perspektivwechsel:
- Die Wirtschaft muss dem Wohl der Menschen dienen.
Der „Wohlstand der Nationen“ (Adam Smith) beruht auf gesellschaftlicher Zusammenarbeit: Wertschöpfung und Handel müssen dauerhaft alle Menschen besserstellen – und nicht nur manche auf Kosten vieler. Eine soziale Marktwirtschaft muss deshalb erstens Anreize für Wertschöpfung und Handel schaffen, dabei zweitens Schädigungen einzelner Gruppen unterbinden und schließlich drittens eine hinreichende Teilhabe aller Menschen am Wohlstand sicherstellen. Dies verlangt insbesondere, dass erwirtschaftete Überschüsse anteilig in soziale Infrastrukturen – Bildung, Gesundheit, Mobilität etc. – reinvestiert werden.
Neue Perspektive: Unternehmen sollten sich für fairere gemeinschaftliche Abgabensysteme einsetzen, anstatt in Steuervermeidung zu investieren. Denn letztlich ist Wirtschaft immer auch auf ein funktionierendes Gemeinwesen angewiesen. Und die zunehmende soziale Spaltung, einhergehend mit dem schwindenden Vertrauen in Institutionen, ist eines der größten Risiken für langfristig erfolgreiche Wertschöpfung. - Die Grundwerte einer menschendienlichen Wirtschaft sind Leistung und Respekt
Verantwortungsvolle Wertschöpfung muss sich stets an zwei Fragen messen lassen: Was bietet sie den Menschen, und wie kommen die Angebote zustande? Es geht also einerseits um Wertschöpfung und die Qualität der Problemlösungen, mithin um die Leistungen, die Unternehmen für die Menschen erbringen. Andererseits stellt sich die Frage, wie Unternehmen mit Konflikten umgehen, die sich im Zuge leistungsorientierter Wertschöpfung ergeben. Genauer: inwieweit sie dabei die Interessen anderer respektieren. Leistung kann man messen und entlang klarer Indikatoren managen. Respekt hingegen lässt sich nicht auf Kennziffern reduzieren. Denn Respekt beruht auf einer Haltung, die sich weder erzwingen noch objektiv erfassen lässt. Umso höher die Anforderungen an Führung und Management – denn ohne Respekt kein Vertrauen.
Neue Perspektive: Für gute Unternehmensführung sind Performance-Kennziffern zwar zwingend notwendig, allein aber nicht hinreichend. Wenn unter einer enggeführten Leistungsorientierung der Respekt gegenüber anderen – vom Mitarbeiter über Kunden und Investoren bis zum Bürger –unter die Räder kommt, drohen ethische Risiken. Wie jene Risiken dann letztlich auf die Leistungsfähigkeit durchschlagen, zeigen die jüngsten Unternehmensskandale. - Gewinne, Wachstum und Wettbewerb sind notwendige Mittel, aber keine Zwecke an sich
Eine nachhaltigere Gesellschaft werden wir nur gemeinsam mit erfolgreichen Unternehmen gestalten können. Nachhaltigkeit muss also stets ökonomische Voraussetzungen wie Profitabilität, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten (vgl. Sustainable Development Goals 8 und 9). Entscheidend ist aber auch hier die Frage des Wie: Welche „Mittel“ der Gewinnerzielung, des Wachstums und Wettbewerbs wollen wir, ausgehend vom Menschen „als letztem Zweck“, weiterhin zulassen? Welche Formen der Schädigung müssen wir unterbinden?
Neue Perspektive: Wenn Unternehmen Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten unter Verweis auf den globalen Wettbewerb rechtfertigen, dann argumentieren sie unter dem Primat des Wettbewerbs, nicht des Menschen. Ähnlich „zwecklos“ ist ein ausschließlicher Verweis auf die Effizienz digitaler Innovationen, wenn Menschen vom Subjekt zum Objekt degradiert werden. Und wenn heutiges Wachstum auf Kosten nachfolgender Generationen eingefordert wird, dann drohen gesellschaftliche Metastasen anstatt blühender Landschaften. - Gemeinsame Regeln sind ermöglichende Faktoren für Wertschöpfung – und keine Hindernisse
Ebenso wie im Sport funktioniert Wertschöpfung nur auf der Basis eines gemeinsamen Spielfelds. Erst Regeln stimmen Erwartungen aufeinander ab, klären (und begrenzen!) Verantwortlichkeiten und schaffen so wechselseitige Verlässlichkeit. Und ohne Verlässlichkeit keine (wirtschaftliche) Freiheit, keine Investitionen, keine Innovationen, keine gesellschaftlichen Problemlösungen. Indes sind auch Regeln auf Akzeptanz angewiesen. Eine Mehrheit der Menschen weltweit glaubt inzwischen, dass der Kapitalismus den Menschen mehr schadet, als er ihnen Gutes bringt. Es geht also nicht mehr um die „license to operate“ einzelner Unternehmen oder Branchen, sondern um das ganze Spielfeld. Und ohne gemeinsames Spielfeld keine verlässliche Wertschöpfung.
Neue Perspektive: Wir brauchen einen Richtungswechsel im unternehmerischen Lobbying-Verständnis – von der „reflexhaften“ Verhinderungslogik hin zu einer konstruktiven Mitgestaltung des Spielfelds. Kritisierte Veränderungsvorschläge anderer müssen durch bessere Alternativen überboten werden. Denn: Der Status quo ist nicht länger eine Option. - Führung heißt: Menschen zum Investieren „motivieren“
Man kann großartige Visionen für eine wunderbare Zukunft entwerfen. Wenn es aber nicht gelingt, die Menschen mitzunehmen, verändert sich nichts. Eher finden wechselseitige Blockaden statt. Fakt ist: Die notwendigen Transformationen erfordern vielfältige Beiträge und manche Zumutung: Berufsbilder, Arbeitsplätze, Produkte, Services, Preise und Ordnungen werden sich verändern. Wir müssen uns von manch wertgeschätzter und bequemer Alternative verabschieden. Und je höher dabei die individuellen Kosten sind, umso größer sind die Widerstände und Zweifel an der Notwendigkeit der Veränderungen. Wer den Sinn jener Zumutungen – d.h. notwendige Kosten, Risiken und Einschränkungen – nicht erkennt, der wird den Wandel nicht mittragen.
Neue Perspektive: Aufgabe guter Führung ist es, die Menschen zu einem Richtungswechsel zu motivieren: von der Kosten- zur Investitionsperspektive. Menschen sind grundsätzlich bereit zu investieren: wenn sie dazu inspiriert werden durch geteilte Werte und nachvollziehbare Zwecke („Purpose“); wenn sie davon ausgehen können, dass ihre Investitionen auch von anderen mitgetragen werden; und wenn sie darauf vertrauen können, dass sie an den Früchten der Veränderungen auch in fairer Weise teilhaben werden. Gute Führung muss die Bedingungen – bis hin zum gemeinsamen „Spielverständnis“ – so gestalten, dass Investitionen in eine gemeinsame Zukunft zur besseren Alternative werden.
Der Mensch als Mittelpunkt eines „neuen“ Kapitalismus – das ist zunächst keine bahnbrechend neue, disruptive Idee. Bereits vor zehn Jahren war diese Prämisse dem „Leitbild für verantwortliches Handeln in der Wirtschaft“ vorangestellt. Tatsächlich geht es beim Konzept des „build back better“ auch nicht zuvorderst um Disruption, sondern um Transformation: Ausgehend von unserer Herkunft brauchen wir eine bessere und schnellere Brücke in eine nachhaltige Zukunft. Dafür sind „technical fixes“ in Geschäftsmodellen, Unternehmensstrategien und marktwirtschaftlichen Ordnungen unabdingbar. Sie werden aber nur mit Perspektivwechseln im (Selbst-)Verständnis der Wirtschaft gelingen.